Ein Kommentar von Lars Immerthal
Eine Pandemie stellt eine ungeheure Störung jeglicher Vorstellung von Routine und vom Leben als Zyklus dar. Leben und Wirtschaft als Abfolge wiederkehrender Ereignisse werden von der Pandemie überlagert. Unsere physische und soziale Existenz wird für einen relativ langen Zeitraum bedroht. Und die teils unbewussten Routinen, die wir für das Management unseres Lebens entwickelt haben, kommen an vielen Stellen zu einem kompletten Stopp.
Es spricht sehr viel dafür, dass wir in den nächsten Jahren häufiger von Pandemien heimgesucht werden. Auch ohne deren zeitliche Abfolge heute schon zu kennen, zeichnet sich ein radikales Phänomen ab: pandemische Jahreszeiten.
Daran schließen sich wichtige Fragen an: Wie können wir als eine freie Gesellschaft ohne massive Restriktionen, mit Partizipation und Transparenz weiterleben? In welcher Art von Landschaften, Städten und Häusern müssen wir leben? Und welche Voraussetzungen sollten Unternehmen schaffen, damit wir besser vorbereitet sind? Welche Infrastruktur müssen der öffentliche und der private Sektor bereitstellen, damit wir gut durch die pandemische Jahreszeit kommen?

Ich sehe fünf besonders relevante Aspekte, die in eine zukünftige Unternehmensstrategie Eintritt finden müssen:
- Eiserne Rationen oder Puffer reloaded: Um Lieferketten zeitlich und räumlich unabhängiger von Gefahrenzonen zu machen, werden Puffer – lange Zeit als Feind der schlanken Lieferkette und der Working-Capital-Optimierung deklariert – wieder wichtig. Und nicht nur für das Gesundheitssystem. Dabei geht es sowohl um die Bevorratung relevanter Güter und die Vorhaltung von Produktions- oder IT-Kapazitäten als auch um Humanressourcen, die z.B. in der pandemischen Jahreszeit einerseits geschützt, andererseits beruflich flexibel eingesetzt werden müssen. Dazu gehören aber auch Ideenpuffer, von denen wir heute nicht wissen, ob sie uns morgen einmal nützlich sein könnten.
- Conversion Time: Die Fähigkeit von Unternehmen, Produktion umrüsten und Lieferketten anpassen zu können, wird in pandemischen Jahreszeiten wieder im Vordergrund stehen. Wenn Luxusmarken wie LVHM die Not zur Tugend machen und ihre Kapazitäten von der Herstellung von Parfüm und Textilien auf die Produktion von hydroalkoholischen Gelen und Gesichtsmasken umstellen, dann wird Gesundheit selbst zum Luxus, ohne den sich der Champagner nicht genießen lässt.
- Autarke und intelligente Technologien: Dank autarker Technologien kann selbst ein Krankenhaus flexibel auf Produktionsengpässe oder fehlende Ersatzteile, z.B. für medizinische Geräte, reagieren. So haben italienische Ingenieure der Firma Issinova in Brescia fehlende Ventile für Beatmungsgeräte kurzfristig mithilfe von 3-D-Druckern hergestellt. Und wäre es nicht eine Steigerung, wenn wir mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) Beatmungsgeräte drucken und betreiben könnten, die sich an die individuelle Hilfsbedürftigkeit eines Patienten anpassen ließen?
- Feuertaufe für die KI: Für die Anwendung der KI ist die Pandemie ein wirklicher Ernstfall und somit eine Feuertaufe. Wann, wenn nicht jetzt, kann die KI ihr Versprechen einlösen, einen wirklichen Mehrwert für uns zu liefern? Das strategische Momentum liegt aber nicht nur darin, dass sie uns bei der Suche nach Impfstoffen oder bei der Risikoanalyse und Optimierung der Wertschöpfungskette in pandemischen Jahreszeiten unterstützt. Wir müssen auch lernen, mit ihr vertrauensvoll zusammenzuarbeiten und zu kommunizieren – und zwar in einer spielerisch reflektierten Weise, wie es heute nur Kinder und Teenager tun, wenn sie mit der KI ihrer Videogames kooperieren.
- Liquid Maps: Wir benötigen dynamische Landkarten, die den Verlauf einer Epidemie anhand unserer Bewegungsdaten analysieren können. So hat Alex Pentland vom MIT mit seinem Konzept der Social Physics gezeigt, wie die Ausbreitung von Krankheiten auf der Basis unserer mobilen Kommunikation sichtbar gemacht werden kann. Damit können wir früher bewusst auf Pandemien reagieren, so wie es etwa in Südkorea gerade in ersten Ansätzen realisiert wird. Der durchaus berechtigten Angst vor einer flächendeckenden Überwachung ließe sich z.B. mit der Block-Chain-Technologie begegnen, die das Potenzial hat, ein umfassendes Tracking mit einem Maximum an Anonymität zu verbinden. Diese dynamischen Landkarten sollten aber nicht nur Teil eines Gesundheitssystems sein, sondern auch Netzwerkorganisationen helfen, deren Ökosysteme und Lieferketten besser zu steuern, wenn es darum geht, Risiken schnell zu identifizieren, Krisen zu adaptieren und bessere Entscheidungen treffen zu können.