SAP möchte mit seiner Strategie jeder Firma helfen, sich zu einem intelligenten Unternehmen weiterzuentwickeln. Wir fragen, ob der Begriff des intelligenten Unternehmens, der mit nüchtern kalkulierenden Entscheidungen von Menschen und Maschinen konnotiert wird, nicht um eine empathische Komponente ergänzt werden sollte. Nennt man das nicht auch customer experience?

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Einsam einkaufen gehen ist keine freie Entscheidung.

Wir kaufen mindestens auf vier verschiedene Arten Lebensmittel und andere Güter für unseren alltäglichen Bedarf ein: online oder vor Ort z.B. im Supermarkt. Allein oder gemeinsam: So können wir unsere Shoppingtour als Erlebnis mit anderen Menschen gestalten oder gehen ganz allein unserer Wege. Was wir am Ende tun, hängt stark von unseren Wertvorstellungen und entsprechenden Prioritäten ab (z.B. Bequemlichkeit, Geselligkeit, Grad der Misanthropie). Mit der Corona-Pandemie haben diese Möglichkeiten eine ganz andere Bedeutung bekommen. Allerdings hat es auch schon vor Covid-19 Menschen gegeben, die in ihrer Einsamkeit schlicht keine Wahl hatten, ob sie nun allein oder gesellig einkaufen gehen möchten. Dazu gehören sicherlich depressive oder in großen Teilen auch ältere Menschen, insbesondere in der westlichen Welt.

Studienergebnissen von IBM: Spielt Einsamkeit eine Rolle beim Einkauf? Scheinbar nein. Oder doch? Sie z.B. unten die Antworten links „I appreciate the advice“ und „To keep me busy/ to pass the time“ Quelle: Studie von IBM (2020/5) „Accelerating Digital Retail in DACH. A Consumer Perspective“

Sollte sich ein Supermarkt um das seelische Wohl seiner Kunden bemühen?

Schon vor der pandemischen Jahreszeit gab es Unternehmen, die auf eine soziale Situation, bedingt durch demografischen und gesellschaftlichen Wandel, empathisch und geschäftstüchtig reagiert haben:

So hat der niederländische Supermarkt Jumbo einen interessanten Gegenentwurf zu den Ketten Amazon Go und Amazon Go Grocery gemacht, die ja auf Kassensysteme und -bereiche verzichten. Bei Jumbo gibt es neben einer normalen Kasse auch eine Kasse für einsame, meist ältere Menschen, die nicht nur genügend Zeit bekommen zu bezahlen, sondern auch in Ruhe eine Unterhaltung mit dem Kassierer oder der Kassiererin führen können. Zudem können sie im Supermarkt mit einem Angestellten einen Kaffee trinken. Damit wird der Supermarkt zum Pflegedienst und als solcher ein Teil des Gesundheitssystems. Gewollt oder ungewollt wird sich unter diesen Bedingungen die Rolle der Angestellten eines Supermarktes radikal ändern, sollte sich dieses Geschäftsmodell durchsetzen. Ein interessanter Entwurf – gerade auch vor dem Hintergrund, dass ein großer Teil der Tätigkeiten im Supermarkt ohnehin automatisiert wird, wie es Amazon schon vorgemacht hat.

Der niederländische Supermarkt Jumbo bietet an der Kasse die Gelegenheit, sich in Ruhe zu unterhalten. Quelle. Jumbo, NL.

Dass Supermärkte schon lange auch zum Gesundheitssektor gehören, zeigt z.B. auch die amerikanische Supermarktkette Walmart, die mit der Laborkette Quest Diagnostics zusammenarbeitet. Die Kunden können bei Walmart vor Ort Blutproben abgeben und dann bei Quest analysieren lassen. Während der Pandemie bietet Walmart auch einen „Drive Thru Service“ für Covid-19-Tests zusammen mit Quest Diagnostics an. Die oben genannten Ideen von Jumbo ließen sich sicherlich auch hier bestens realisieren, da gerade das Virus ja die Schwächen und Stärken unserer sozialen Bindungen offenbart.

Unternehmen haben also heute schon die Möglichkeit, Einfluss darauf nehmen zu können, wie einsam oder gesellig wir unser Leben führen wollen oder müssen. Wie lassen sich dann die Angebote von Unternehmen wie Walmart oder Jumbo verstehen? Sind das Zeichen einer aufkommenden emotionalen und sozialen Intelligenz von Unternehmen? Oder handelt es sich um eine reine Form von Experience Management, das nur den Grad unserer sozialen Bindungen kapitalisieren will?

Das intelligente Unternehmen ist weder emotions- noch gewissenlos

SAP hat im Jahre 2018 Qualtrics, einen Pionier des Experience Managements, für acht Milliarden Dollar gekauft. Ein Vorstoß, der sich vor allem gegen den übermächtigen Gegner Salesforce im Bereich CRM richtet. Qualtrics sammelt Daten zu Kunden, Mitarbeitern, Marken und Produkten, um das Design und die Optimierung der Kundenerfahrung oder des Mitarbeiterengagements möglich zu machen. Mithilfe von Big Data und KI können so Erlebnis- und Erfahrungsmuster von Kunden auf eine bisher nie dagewesene Weise analysiert werden. Interessant dabei ist, dass die globale Strategie von SAP darin besteht, seinen Unternehmenskunden dabei zu helfen, zu intelligenten Unternehmen zu werden. Dabei stehen insbesondere KI-unterstützte Entscheidungen im Vordergrund, die den Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen sollen – und dies ohne menschliche Voreingenommenheit und Emotionalität.

Das Bild des intelligenten Unternehmens wird an dieser Stelle auf eine emotionslose Rationalität reduziert und genau diese Tatsache wird in der Regel als besondere Stärke hervorgehoben und erfährt eine besondere Wertschätzung bei Unternehmenskäufen oder an der Börse. Auch das kann man zum Geschäftsmodell machen, wie z.B. der Hedgefonds Bridgewater, der das nüchterne Kalkül der Algorithmen, um Risiken der Fonds zu minimieren und Gewinne zu maximieren, auf die eigene Organisation anwendet. Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Denn Intelligenz ist komplexer.

Sollten wir lieber dann nicht auch fragen, ob wir Organisationen mit einer emotionalen Intelligenz bzw. einer empathischen Ratio ausstatten wollen? In der Unternehmensethik gab es schon in den 80er und 90er Jahren die Fragestellung, inwiefern Unternehmen ein Gewissen haben können. Diese Frage wurde dort, wo man das Unternehmen als eigenständigen sozialen Akteur betrachtet hat, insbesondere aus einer Institutionenethik heraus bejaht.

Warum sollten Unternehmen und Organisationen, die sich z.B. der Pflege und dem Wohl von Menschen verschrieben haben, nicht ihre Perspektive erweitern, in dem sie Einsamkeit oder depressives Verhalten frühzeitig erkennen, also eine Art empathische Rationalität in Anschlag bringen? Diese Erwartung an Walmart & Co. zu richten mag naiv sein. Die Frage nach der Nachhaltigkeit von Unternehmen, die Zurechnung von Verantwortung auf soziale Akteure war es im Anfang auch; aber sie setzt sich mittlerweile auch entsprechend als strategische Dimension durch.

Emotionale Intelligenz für eine Good Governance

Alex Pentland hat mit seiner Arbeit „Social Physics“ gezeigt, wie Kommunikation sowie soziale Erfahrungs- und Erlebnisdaten von Menschen auch zu einer Good Governance & Corporate Social Responsibility von urbanen Gemeinschaften, Organisationen und Gesellschaften genutzt werden können. Die Frage ist demnach, wie wir in Zukunft Intelligenz von Institutionen interpretieren und mit welchen Fähigkeiten, die wir intelligent nennen, wir diese anreichern wollen.

Auch wenn für den Begriff der Intelligenz keine allgemein akzeptierte Definition existiert, gehen wir davon aus, dass es multiple Formen davon gibt, die über ein nüchternes und rein interessengeleitetes Kalkulieren hinausgehen. Gerade deshalb kann Einsamkeit als soziales Risiko für Unternehmen Teil eines Geschäftsmodells werden, wenn Unternehmen sich ihrer Nähe zum Kunden bewusst sind. Hier gibt es für die Ethik der KI und auch für das sogenannte Experience Management die Gelegenheit zu zeigen, dass Menschen auch wirklich als solche wahrgenommen werden.

Autor: Lars Immerthal

Dieser Text ist Teil einer Reihe von Blogbeiträgen, die an den Ergebnissen und Inhalten der Studie „Sturmreiter. Strategien der TecDax-Konzerne“ ansetzen und interessante Aspekte der analysierten Strategien vertiefen. Hier ist es das Konzept des intelligenten Unternehmens, das die Strategie von SAP kennzeichnet. Die Studie kann frei angefordert werden.